So schlecht steht es um San Francisco
21. August 2022Nach San Francisco zu kommen ist für mich ein Stück wie nach Hause zu kommen. Ich habe hier 2011/2012 gelebt und für ein Startup gearbeitet. Zudem war ich vorher und nachher durch zahlreiche Reisen und Konferenzen in der Bay Area and seit 2018 jährlich mit der Schweizer Startup Nationalmannschaft.
Umsomehr tut es jetzt weh zu sehen wie die Stadt in der man Blumen in den Haaren tragen sollte unter der Corona Pandemie leidet. In der Schweiz leben wir im Paradies, aber das merkt man nur, wenn man offen ist und auch mal über den eigenen Tellerrand hinaus schaut oder mal eine andere Kultur und Region entdecken geht. Klar hatte uns COVID eingeschränkt und kurzfristig war auch mal WC-Papier, Mehl und Hefe „knapp“, aber wir beklagen uns auf sehr hohem Niveau über den Lockdown und die entsprechenden Auswirkungen. Denn der Staat unterstützt bei uns die Betroffenen und es gibt soziale Auffangbecken.
Ganz anderst in Kalifornien. Der Golden Gate Staat kämpft nicht nur mit einer Pandemie, sondern auch mit der Rezession, steigender Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit. Man sagt, dass man anhand der Obdachlosen den Zustand einer Stadt erkennen kann. Definitiv ein Indikator, aber ich möchte die Probleme anhand von drei weiteren Beispielen aufzeigen.
San Francisco steht zum Verkauf
In San Francisco leben rund 800’000 Menschen. Vor der Pandemie besuchten mehr als 18 Millionen Gäste die Stadt pro Jahr und gaben rund 11 Milliarden Dollar aus. Zürich hat im Vergleich dazu 3 Millionen Logiernächte. Durch die Pandemie blieben die vielen Touristen und das Geld weg. Viele Läden haben in der Pandemie ihre Geschäfte geschlossen und zwar für immer. Nicht nur lokale Läden, sondern auch grosse, internationale Retailer wie Gap, H&M, oder Uniqlo. So steht heute rund um den Union Square gefühlt jedes dritte Ladenlokal leer und sucht seit Monaten neue Mieter während sich an der Bahnhofstrasse in Zürich lange Schlangen vor den Luxusboutiquen bilden. In San Francisco hat die Pandemie den Strukturwandel deutlich beschleunigt und grosse Ketten nutzten den Lockdown um sich von teuren Ladenlokalen zu Gunsten vom Onlinehandel zu verabschieden. Und die Läden, welche noch geöffnet haben wie zum Beispiel Macys sehen aus wie nach dem Sommer-Schluss-Verkauf.
Für 14 Dollar will niemand mehr arbeiten
Die Realität in Amerika ist, dass die meisten Menschen, die Vollzeit arbeiten, am Rande des finanziellen Ruins leben. 2011 war der Mindestlohn pro Stunde in Kalifornien noch bei 8.00 Dollar. Während der Pandemie wurde er auf 12.00 erhöht und im Januar 2022 sogar auf 14.00. Doch selbst das reicht vielen Arbeitnehmern nicht aus, um sich die Lebenshaltungskosten in den USA leisten zu können. Gemäss der Big Mac-Indextabelle Stand Q2 2022 beträgt der Preis für einen Big Mac in den USA 5.15 Dollar. In der Schweiz kostet der Burger 6.71 Dollar.
Die Arbeitnehmer sind mit der höchsten Inflation seit 40 Jahren konfrontiert. Es ist ein historischer Moment, in dem sich die Arbeiter weigern, für 14 Dollar pro Stunde zu arbeiten, denn es ist einfach nicht mehr genug um anständig zu leben. Ein höherer Mindestlohn könnte dazu beitragen, gerade farbige Menschen und wichtige Arbeitnehmer zu unterstützen. Allerdings könnte eine Lohnerhöhung auch zum Verlust von Arbeitsplätzen führen. In einem Bericht des Congressional Budget Office aus dem Jahr 2021 wird festgestellt, dass eine Anhebung des Mindestlohns auf 15 Dollar pro Stunde bis 2025 zu 1,4 Millionen Arbeitsplatzverlusten führen könnte. Dem Bericht zufolge würde dies jedoch auch 900’000 Menschen aus der Armut befreien. So werben Fast Food Restaurants wie In-n-Out bereits jetzt mit Start-Löhnen von 20 Dollar und haben Mühe Arbeitskräfte zu finden. Ein Mitarbeiter im Burger King in Singen (Deutschland) verdient im Vergleich 13 Euro! Die fehlenden Arbeitskräfte spürt man auch in den Restaurants, denn der Service ist oftmals schlecht und sehr langsam, weil es an qualifizierten Mitarbeitern mangelt.
Ladendiebstahl um zu überleben
In San Francisco ist das Vermögen sehr ungleich verteilt. Startups wie Facebook, Lyft, Uber, Slack, oder Airbnb haben ihre Gründer zu Milliardären gemacht und die Börsengänge haben einen Kaufrausch bei Tausenden von neugeborenen Millionären ausgelöst. Eine gute Salesperson verdient bei einem Startup im Silicon Valley gut und gerne 600’000 Dollar pro Jahr. Das fördert natürlich die soziale Ungerechtigkeit und die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter. Denn normale Familien können es sich mittlerweile gar nicht mehr leisten in der Stadt zu wohnen. Sogar Startup Mitarbeiter von kleinen Firmen schlafen im Auto oder campen vor dem Büro auf dem Parkplatz. Durch die Pandemie und Homeoffice sind viele weg oder weiter aufs Land hinaus gezogen. Aber nicht jeder kann weg und so ist der Ladendiebstahl in San Francisco deutlich schlimmer geworden. Zudem wird durch das Gesetz Proposition 47 Diebstahl bis zum Warenwert von 950 Dollar nicht mehr geahndet. So werden Läden regelmässig leer geräumt. Überspitzt könnte man auch sagen San Francisco ist abgestürzt in die Gesetzeslosigkeit. Das ist eine seltsame Formulierung für eine amerikanische Stadt, aber sie scheint eine genaue Beschreibung dessen zu sein, was hier gerade passiert. Die Firmen reagieren darauf in dem sie wie zum Beispiel Walgreens weitere Läden schliessen und so steigt der Leerstand weiter, ein Teufelskreis.
Im Vergleich zu November 2021 kommen die Touristen jetzt langsam wieder zurück nach San Francisco. Die Sehenswürdigkeiten sind natürlich nach wie vor noch da, aber die Stadt ist nicht mehr die Gleiche wie vor der Pandemie. Und ob die internationalen Touristen langfristig weiter kommen, wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass viele Shoppingläden geschlossen haben? Es wird sich zeigen wohin die Reise geht und ob sich der grosse Unterschied zwischen arm und reich verkleinern lässt.
Wir sind aktuell in den USA unterwegs und wirklich überall, auch auf dem Land, werden händeringend Arbeitskräfte gesucht. Vielerorts haben Fastfood Ketten die Innenbereiche geschlossen und bieten nur Drive thru oder Pick-up an, weil die Arbeitskräfte zum Betrieb des Innenbereichs fehlen. Völlig surreal.
Ich war vor 3 Wochen in New York. Und ich war auch erstaunt. Klar, New York ist „the most resilient city“ und steht immer wieder auf. Aber auch hier, Armut, Drogen, Menschen ohne Obdach. Und das bei übervollen Geschäften und Hotels. Und explodierenden Preisen.
New York ist schon wieder „da“ aber ich frage mich, wie geht das weiter? Die Infrastruktur, insbesondere was Strassen etc angeht? Schwierig wenn man das mit der blitzblanken Schweiz und den perfekten Bauten vergleicht.
Was aus meiner Sicht aber ganz übel war: Man fühlt sich nicht mehr sicher. War schon so häufig NYC in den vergangenen 25 Jahren und hab mich immer sicher gefühlt. Das war in diesem Jahr anders.
Danke für die Zusammenfassung, lieber Stefan. Ich bin in San Francisco geboren als meine Eltern dort ihre Postdoc Zeit verbrachten, war später für ein High School Exchange Year in der Nähe und mit eBay auch beruflich öfter dort. Ich habe einige enge Freunde in SF, welche mehrheitlich die Bay Area lieben, sich persönlich sehr eng damit identifizieren und wahrscheinlich nie woanders leben werden/möchten. Ich finde, es ist immer noch eine der schönsten Städte der Welt und sie strahlt ein Lebensgefühl aus, wie ich es sonst nirgendwo gespürt habe. Trotzdem habe ich alle Deine Punkte schon selbst erlebt oder davon gehört. Es macht mich traurig und ich hoffe, dass es vielleicht irgendwann wieder eine Trendwende gibt. Dies wird dann voraussichtlich eher privaten Aktivisten wie Benioff etc zu verdanken sein, als den lokalen Politikern.
Die glitzernden Augen, mit denen viele von „Amerika“ sprechen, sehen halt selten mehr als Manhattan Downtown, SanFran SoMa und ein paar Strände in Florida. Umso besser ist es, wenn Leute wie du, die über Jahre sehen, wir rasch sich die Dinge bewegen, und so viel öfter zum Schlechten, dann auch darüber reden. Freund von mir hatten 2015 ein schönes Häuschen in North Berkeley, fussläufig zur Bart & zur Uni, sind dann Ende 2019 rausgeschmissen worden, und so leben ein Research Associate Prof und seine Frau als College Teacher beide wieder auf 40qm wie zu den schlimmsten Studienzeiten – und ihr Haus, das dann zu einem Vielfachen ihres Kaufpreises weiterverkauft wurde, steht seit Pandemie-Beginn leer…
Danke für Deine Eindrücke – ich war selbst das letzten Mal vor einigen Jahren in San Francisco daher mangelt es mir an aktuellen Eindrücken.
Vieles von dem was Du berichtest sind Probleme die in SF seit Jahren wenn nicht sogar Jahrzehnten bestehen.
Die Obdachlosen sind das Ergebnis von Policy wie schon hier angemerkt wurde.
Die Ungleichheit besteht auch schon seit vielen Jahren – was sich ändert sind die Verhältnissmäßigkeiten und teilweise auch Beispiele an denen sich das deutlich macht. Geht man z.B. zur Finanzkrise ins Jahr 2008/09 zurück galt San Francisco als erledigt und viele haben es abgeschrieben. Was danach kam wissen wir.
Hier eine gute Analyse zur Entwicklung der Hauspreise in den USA und der Bay Area https://daniellelazier.com/look-back-san-francisco-real-estate-crisis/
Hier auch ein Artikel aus 2018 zum generellen Sentiment https://taz.de/Abschied-von-einem-liberalen-Traum/!5556296/
Wie weit SF in die Krise rutscht und wie es wieder heraus kommt hängt am stärksten davon ab wie sich der Tech Sektor entwickelt und ob er SF weiterhin als Nabel ihrer Welt betrachtet. Falls beides zugunsten von SF ausgeht werden wir in 10-15 Jahren neue Höhen erleben die sich heute kaum jemand vorstellen kann.
Whow. Ja der Gap von arm zu reich in Amerika war schon immer massiv. Erklärt meiner Meinung nach auch wieso Trump gewählt wurde.
Das Problem scheint sich jetzt zuzuspitzen? Ich war Ende April in SF Bay Area hatte das aber so nicht gesehen. Die Obdachlosen sind das Problem der Politik dort wie mir ein Freund erklärte der seit 25 Jahren in SF lebt. Die Republikaner wollen kein Geld ausgeben dafür! Trump lässt auch hier grüssen…
Was passiert hier nun in CH wenn wir diesen Winter auf Stromimport aus der EU angewiesen sind?
Strom-Preise sind bereits 50% höher und Wholesale Preise für den Winter sind 10x: 450 CHF/kWh im Vergleich zu 50 CHF/kWh vor 2 Jahren!
Danke für die eindrückliche Zusammenfassung über den Zustand SF. Seit 2018 habe ich ein Research Appointment am Berkeley Lab und kann Deine Eindrücke bestätigen (letzten Samstag war ich wieder einmal auf einer Velotour durch SF). Spannend wird sein, zu verfolgen wie sich SF neu erfindet. Ich freue mich auf Deinen Erfahrungsbericht in 2 Jahren.
Gerade zurück aus SFO kann ich das bestätigen. Wir waren das erste mal in San Francisco und wirklich bedrückt von der offensichtlichen Armut und Obdachlosigkeit so vieler Menschen. Uns wurde auch gesagt, dass leichtere Straftaten wie Diebstahl nicht geahndet werden. Die Stadt hätte so viel zu bieten, aber im Uringestank zu frühstücken ist definitiv nicht attraktiv. Ich wünsche der Stadt, dass es wieder besser wird!
wir waren jetzt im September für 13 Tage in SF. Für mich war es das erste Mal in Amerika, für meinen Mann nicht, denn er hat 2 Jahre in Kalifornien gelebt. Wir waren entsetzt. Ich kann SF nicht wirklich als eine erneute Reise in Betracht ziehen.
Fisherman´s Wharf ist völlig überfüllt, den Hon-Top Bus sollte man gar nicht erst in Betracht ziehen. Die Lautstärke (95 dB) in SF in exorbitant hoch, der Dreck und Gestank, sowie auch die hohe Zahl der Obdachlosen, wo viele von denen auch noch verwirrt sind und mit sich selber reden, ganze Zeltstraßen, alles sehr verkommen und nur auf die Meile für die Touristen abgestellt.
Nein, das ist ein Armutszeugnis für SF, Einmal ja, aber nicht noch einmal. Als mein Mann und ich auf unseren Bus gewartet haben (eine Querrstraße von der Market Street), hat neben uns ein Obdachloser sein großes Geschäft erledigt, mitten auf der Straße, und es hat keinen Interessiert. Die ganze Market Street ist voll von Obdachlosen, selbst die Polizei hat ihre Mühe, aber ab 18 Uhr abends rotten die sich richtig zusammen. Jeder Laden dort hat mindestens 3 Wachleute, voll bestückt mit Waffen, damit nicht geklaut wird, echt unheimlich. Auf der Market Street haben wir jeden Tag Ranger gesehen, in voller Montur, sehr beunruhigend für einen Tourist, so etwas erwarte ich in Ägypten, aber nicht in SF.
Hier treffen Welten aufeinander und die Schere zwischen Arm und Reich ist extrem, an jeder Ecke zu sehen, sehr bedauerlich für SF. War es für viele vielleicht vor 20 Jahren noch eine Vorzeigestadt, ist SF ein sinkender Stern und wenn die Führung in SF nicht bald was einfällt, dann bleiben auch die Touristen weg. Kathrin